Günther Tritschler            Website
Buch   -   in Vorbereitung

Aufsatz  vom  14.04.2020  :

Ich denke oft an Europa

Diese Sätze lassen aufhorchen: „China hat eine Vision für seine Zukunft, Amerika hat eine. Aber in Europa wissen wir nicht, wo wir in zehn Jahren sein wollen. Wir brauchen eine positive, enthusiastische Vision für Europa.“ (Zitat von Pierre Gattaz, Chef des europäischen Unternehmerverbandes Business Europe, im April 2019 zu BILD am SONNTAG.) Nun, was Amerika angeht, kann man leise Zweifel anmelden. Gewiss ist aber, dass China weiß, wo es in zehn Jahren sein will. Für Europa gilt das ersichtlich nicht! Dabei hatten wir einmal eine Vision. Schon bald nach dem Ende des 2.Weltkriegs erhoben in den geschundenen Ländern einige besonnene Persönlichkeiten ihre Stimme. Sie traten ein für die Gründung des föderalen Staates der „Vereinigten Staaten von Europa“ als langfristiges Ziel für ein friedlich vereintes Europa.  

Wir Europäer sollten die Vision „Vereinigte Staaten von Europa“ wiederbeleben und von Neuem als Ziel verfolgen.

Es wird auf Dauer weder genügen noch gelingen, den mit der Europäischen Union (EU) bisher erreichten Stand der europäischen Einigung zu verwalten und gegen weiteren Zerfall zu verteidigen. Denn Europa gibt mit der EU seit langen Jahren kein gutes Bild ab. Die EU wird den selbst gestellten Ansprüchen zu selten gerecht. Wir überlassen vor unserer Haustür anderen das Feld (Syrien, Libyen). Wir können uns im Ernstfall nicht selbst verteidigen und sind abhängig von den USA. Wir sind eine große Handelsmacht, aber kein entsprechend relevanter Faktor in der Weltpolitik. Wir beweisen untereinander wenig Solidarität (Flüchtlinge, Jugendarbeitslosigkeit, Corona-Krise). Wir fallen zurück in nationale Egoismen (Grenzschließungen). Wir dulden Missachtung unserer sogenannten Werte (Ungarn). Offensichtlich stehen für eine Anzahl von Mitgliedstaaten die finanziellen Vorteile der EU gegenüber den darüber hinaus propagierten Zielen und Werten der Gemeinschaft im Vordergrund.  Es würde hier zu weit führen, diese Beispiele um weitere zu ergänzen und einzeln auszuformulieren. Aber die Diagnose den Patienten EU betreffend scheint klar: Die Europäische Union ist gut, aber genügt nicht mehr. Europa ist mit der EU eingeschnürt im Gipsverband der Supranationalität. Europa geht mit der EU auf Krücken! 

 Leider sind bei den vergangenen Schritten zur politischen Einigung von Europa Fehler passiert. Anfängliche „Konstruktionsmängel“ waren wahrscheinlich nicht zu vermeiden, wurden aber immer fortgeführt. Das Prinzip der Supranationalität hielt früh Einzug in europäische Verträge und setzte sich fest. Was bedeutet es?  Am 20.Juni 1950 stellte Jean Monnet einen Vertragsentwurf für die zu gründende „Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl“ (EGKS) vor. Auf Kohle und Stahl sollten unter den Mitgliedstaaten keine Zölle mehr bezahlt werden. Gleichzeitig wurde eine „Hohe Behörde“ geschaffen, die für den Bereich der Montanindustrie geltende, gemeinsame Regelungen treffen konnte. Ziel der Gemeinschaft war es, primär wirtschaftliche Regelungen zu vereinbaren. Aber darüber hinaus wollte man ein wenig mehr, nämlich eine zusätzliche politische Bindung. So also war die erste „supranationale“ Organisation in Europa geschaffen. „Supranational“ bedeutet laut Bundeszentrale für politische Bildung (bpb): „Bezeichnung für einen Zusammenschluss von Staaten, die ihre nationalen Souveränitätsrechte teilweise auf gemeinsame Institutionen übertragen.“ Die Betonung liegt auf dem Wörtchen „teilweise“.  
Die Bildung der EGKS war nur der Beginn von Bemühungen, Europa zu einigen. Ein nächster großer und kühner Schritt dahin war die Absicht, in einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) eine gemeinsame europäische Armee aufzustellen. Der EVG-Vertrag sah darüber hinaus ein geeintes Europa als Ziel vor. Frankreich, Belgien, Luxemburg, Italien, die Niederlande und die Bundesrepublik hatten den Vertrag bereits im Mai 1952 unterzeichnet. Jedoch scheiterte die Ratifizierung durch das französische Parlament. Rückblickend war dies eine verpasste Chance von historischer Dimension.   

 

Jetzt, eine lange Zeit von 7 Jahrzehnten nach EGKS und EVG, leben wir nun also in und mit der Europäischen Union. Diese ist in den Verträgen unverändert nach dem Prinzip der Supranationalität aufgebaut. Entsprechend teilen sich die EU und die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeiten in drei Ebenen. 

 Die ausschließlichen Zuständigkeiten der EU betreffen den Binnenmarkt (Zollunion, Außenhandelspolitik, Wettbewerbsrecht). In diesem Bereich vor allem hat die EU-Kommission großen Einfluss. Hinzu kommt die Verantwortung der Europäischen Zentralbank für die Währung der 16 EURO-Länder. 
 Kultur, Bildung, Sport, Zivilschutz, Gesundheit sind hingegen vollständig in nationaler Hand. 
 Es verbleibt der dritte Bereich, wo Kompetenzen zum Teil der EU und zum Teil dem Mitgliedstaat zugeordnet sind.  Hierzu gehören: Landwirtschaft und Fischerei, Verkehr, Umwelt, Energie, Forschung und Entwicklung, Verbraucherschutz, Sozialpolitik und Sicherheits-, Verteidigungs- und Außenpolitik.  
In dieser dritten Ebene wirkt sich das Behelfskonstrukt der Supranationalität voll aus. Es ist die Problemzone der EU, die reichlich Potential für Komplikationen, Erfolglosigkeit und Imageschädigung bietet. Die einengende Supranationalität findet ihren Ausdruck in den Institutionen der EU. Die „Regierung“, der Europäische Rat (Chefs der 27 Mitgliedsstaaten), tagt nur ein paarmal im Jahr bzw. im Krisenmodus aus aktuellem Anlass. Hier allein wird letztlich entschieden, aber nur einstimmig oder mit qualifizierter Mehrheit. So können Mitglieder blockieren. Die Kommission mit ihrem riesigen Apparat an Mitarbeitern darf Gesetzesvorschläge machen. Das Parlament mit über 700 Sitzen hat kein Initiativrecht. 

Das supranational organisierte Europa erweist sich immer wieder als nicht oder zu spät entscheidungsfähig. Dies erkannt, wurden schon verschiedene Vorschläge gemacht. Das „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“ ist einer davon. Die Eurozone ist wohl ein (nicht vollkommen gelungenes) Beispiel dafür (fehlende gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik). Eine anderes „Binnenbündnis“ innerhalb der EU formierte sich in der Visegrád-Gruppe. Es ist davon auszugehen, dass solche Gruppen oder je nach Anlass wechselnde Koalitionen von Mitgliedern innerhalb der EU eher mehr Boden für Zwist als  Fortschritt bedeuten.  Eine andere Forderung ist, der Europäische Rat solle grundsätzlich mehrheitlich entscheiden. Das hieße, die Mitgliedsländer müssten wesentlich mehr nationale Souveränität auf die EU übertragen.  Aus heutiger Sicht ist nicht erkennbar, dass eine große Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten je dazu bereit wäre.  

 Europa befindet sich in einer Zwangslage. Die Einzelstaaten haben zu wenig Gewicht in der Welt und die gemeinsame Organisation EU ist behindert. Europa steht im Abseits der Weltpolitik. Armer, alter Kontinent. Wie also löst Europa sein Dilemma? 

Weiterwurschteln im Sinne der Sonntagsreden von Seiten der Regierung und in der Parteienlandschaft: „Wir müssen die EU fortentwickeln hin zu mehr Europa“?  Dies würde bedeuten, die gegenwärtigen Hilfskonstruktionen weiter komplizierend zu verästeln und auf Krücken weiter zu humpeln. 

Oder einer Vision folgen und konkrete Schritte dahin gehen, die heißt: Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa“, ein handlungsfähiger Bundesstaat mit föderalem oder regionalem Aufbau und klarer Struktur von Verantwortung auf den verschiedenen Ebenen von der Gemeinde bis zur Zentralregierung! 
 
Sind Europäer heute dazu bereit? Momentan und in großer Mehrheit wahrscheinlich nicht. Solange eine breite Öffentlichkeit nicht über ein solches Jahrhundertprojekt redet und nachdenkt, ist das auch nicht verwunderlich. Es ist auch nicht zu erwarten, dass alle europäischen Länder dabei mitmachen würden. Andererseits äußern viele Menschen, sie fühlten sich zuerst als Europäer, erst dann als Franzosen, Spanier, Deutsche. Wer macht den Anfang, über die Vision zu reden? Es existieren nicht wenige europafreundliche Vereine und Gruppierungen. Anscheinend tauschen die sich jedoch vor allem intern in ihren Zirkeln aus. Vielleicht bildet sich ja einmal eine Initiative aus, ähnlich Fridays for Future, die die Vision „Vereinigte Staaten von Europa“ in einem großen Engagement für Europa in die Welt hinaus trägt.  
 
Dem Patienten wäre die Genesung zu wünschen!